Die Neurologie in Basel hat sich aus der allgemeinen Anatomie entwickelt. Ungefähr achtzig Jahre nach der Gründung der Universität im Jahr 1460 hat sich der Gelehrte Vesal unter anderem mit neurologischen Strukturen beschäftigt. Die Anatomie des Gehirns und des übrigen Nervensystems hat er ausführlich mit Beschreibungen und Illustrationen dargestellt. Auch Felix Platter (1536–1614) und später Johann Heinrich Glaser (1629–1675) haben als Anatomen in Basel in ihren grossen Werken das Nervensystem berücksichtigt. Im 19. Jahrhundert war Gottlieb Burckhardt (1836–1907) an der Universität als Dozierender neurologischer Themata tätig. Spezialisiert in Neurologie haben sich danach hauptsächlich Ärzte, die aus der Inneren Medizin der staatlichen Poliklinik kamen, wie z.B. Fritz Egger (1863–1938) und Emil Villiger (1870–1931).
Robert Bing (1878–1956)
Mit Robert Bing fand die moderne Neurologie
in Basel ihren Anfang. Bing wurde
in Strassburg geboren und ist im zweisprachigen
Elsass aufgewachsen, seine Eltern zogen dann nach Basel, wo er seine gesamte medizinische
Ausbildung bis zur Promotion absolvierte. Seine
starken Wurzeln zur Stadt Basel veranlassten ihn,
sich 1907 dort als Neurologe niederzulassen. Dies
geschah in einer Zeit, in der, wie Georgi in seiner
Ansprache zum 50jähigen Jubiläum der von ihm massgeblich initiierten Schweizerischen Neurologischen Gesellschaft (SNG) formulierte, «… in Basel, wie fast überall
in der Schweiz, die Neurologie noch eng mit der
Inneren Medizin verknüpft war, die dieses, ihr
Kind, mit starken und nicht immer ganz sanften
Mutterarmen festzuhalten suchte». Genau in
dieser schwierigen Zeit hatte Bing den Mut, mit
Villiger zusammen ein Nervenambulatorium zu
gründen. Man gestand der Neurologie nur ein
kleines Kämmerlein in der Medizinischen Poliklinik
zu, welches Bing zweimal in der Woche
während 11⁄2 Stunden benutzen durfte – und das
45 Jahre lang. Die Poliklinik wurde sehr anspruchslos
und unter schwierigen räumlichen Bedingungen
geführt, hatte aber als Institution eine
grosse soziale Bedeutung inne. Arme und mittellose
Patienten wurden dort fast gratis von Spezialärzten
behandelt, nachdem sie von Ärzten aus
der Stadt zugewiesen worden waren. Bing war dort nicht als offizieller Konsiliarius der
Medizinischen Universitätsklinik tätig – einen Lehrstuhl
für Neurologie gab es noch nicht. Bing bemühte sich, seine Erfahrungen mit
den Kranken in ordentlicher und übersichtlicher
Form festzuhalten, indem er Krankengeschichten
führte und ein einfaches Archiv anlegte. Er
war es auch, der 1909 das erste eigentliche neurologische
Lehrbuch in deutscher Sprache geschrieben
hat, das in der Folge mehrmals aufgelegt
und in mehrere Sprachen übersetzt wurde.
Elf Jahre nach der Eröffnung des Nervenambulatoriums, wurde Bing zum Extraordinarius für Neurologie ernannt, 1932 zum Ordinarius ad personam und 1937 erhielt er den ersten Lehrauftrag für Neurologie in Basel. Damals gab es noch keine neurologischen Praktika und keine Patienten im Unterricht, wodurch das neurologische Fachgebiet auf die Studenten wohl eher trocken und theoretisch wirken musste. Etwa gleichzeitig mit Horton hat er den Cluster-Kopfschmerz beschrieben, der in der Folge in der Literatur als Bingscher Kopfschmerz oder Bing-Horton-Syndrom Eingang fand. Robert Bing starb als Junggeselle im Jahr 1956 und vermachte sein gesamtes Vermögen der Schweizerischen Akademie für Medizinische Wissenschaften. Aus dieser Schenkung wird bis heute noch der bedeutsame Bing-Preis verliehen.
Felix Georgi (1893–1965) – Von der Neuropsychiatrie zur somatisch orientierten Neurologie
1948 wurde Felix Georgi, dem 2. Ordinarius
für Neurologie in Basel, Bings Lehrauftrag
übergeben, 1951 übernahm Georgi Bings Nachfolge
als Vorsteher der nun selbständigen staatlichen
Neurologischen Poliklinik. Seine Ausbildung
wie auch sein Medizinstudium absolvierte Georgi
zum Teil in Zürich, zum Teil in verschiedenen
deutschen Städten und schloss das Staatsexamen
in Freiburg im Breisgau ab. Er hat sich vorwiegend
mit neuropsychiatrischen Forschungsgebieten, mit
Grundlagen- und Ursachenforschung auseinandergesetzt. Er wurde stellvertretender Direktor
der Neuropsychiatrischen Klinik Breslau, ausserordentlicher
Professor in Breslau und habilitierte
dort in Neurologie und Psychiatrie. Der Nationalsozialismus
zwang ihn, in die Schweiz auszuwandern,
das Extraordinariat in Breslau wurde ihm
aberkannt.
Aus seiner bisher erfolgreichen Laufbahn blieb ihm als akademischer Titel lediglich der Doktortitel. Mit unerschöpflichen Kräften hatte er nach seiner Emigration die kleine psychiatrische Privatklinik Bellevue in Yverdon in ein modernes psychiatrisches Zentrum umorganisiert, ein Forschungslaboratorium neu aufgebaut und das Insulinkoma als moderne Therapie eingeführt. Nun Schweizer Bürger geworden, berief ihn Prof. J. Staehelin 1946 als Sekundärarzt nach Basel an die Psychiatrische Universitätsklinik Friedmatt. Er führte das dortige Forschungsinstitut und betrieb seine frühere Forschung der Körpersäfte intensiv weiter. Georgi vollzog damit einen bedeutsamen Wechsel von der Neuropsychiatrie hin zur hauptsächlich somatisch orientierten neurologischen Tätigkeit. Mit seiner Habilitation über humorale Abnormitäten bei neurologischen Krankheiten wurde er der erste klinische Neurobiologe in Basel. Seine Theorien haben ihm Skepsis und Kritik eingebracht. Er behauptete, dass der Urin von Schizophrenen einen Faktor beinhalte, der die Geometrie des Spinnennetzes durcheinanderbringen würde. Auch die Annahme, mit Tränendrüsen-Extrakten die biochemischen Störungen von Depressiven normalisieren zu können, konnte nicht bestätigt werden. Trotz aller Widrigkeiten war er stets seinen Ideen treu und konnte durch seine unermüdlichen Forderungen ein Institut errichten, welches sich im Vergleich zu Bings Zeiten erheblich durch Ausbau und Expansion kennzeichnete, bis es schliesslich am 30. Januar 1962 den Namen «Neurologische Universitätsklinik und Poliklinik» annehmen durfte.
Heinrich Käser (1924–2006) – Klinische Elektrophysiologie
Heinrich Käser, der 1965 Georgis Nachfolge
antrat, hatte sich in klinischer Elektrophysiologie
spezialisiert. Er weilte an der Mayo-Klinik bei
Dr. Edward Lambert, mit dem er experimentelle
Untersuchungen bei neuromuskulären Krankheiten
durchführte. Heinrich Käser hatte zur Zeit
seiner Wahl 1965 bereits entscheidende Arbeiten
über Polyneuropathien und elektrophysiologische
Untersuchungen am peripheren Nerv publiziert. Als stellvertretender Chefarzt und Leiter der
Poliklinik wurde Prof. R.Wüthrich gewählt, bereits
damals ein sehr bekannter Multiple-Sklerose-Forscher. Die Neurologische Klinik befand sich
immer noch als separate Klinik unabhängig vom
Kantonsspital an der Socinstrasse. Die neurologische
Versorgung am Kantonsspital wurde durch
einen eigenen Konsiliardienst durch Prof. Hansruedi
Müller, den Pionier der Neurosonologie,
und Dr. Ernst Stricker garantiert. Unter Heinrich
Käser wurden an der Socinstrasse die Subspezialitäten
ausgebaut, insbesondere das EEG unter der
Leitung von Prof. Giuseppe Scollo-Lavizzari.
Ein Grossereignis war 1972 am Kantonsspital die
Anschaffung des ersten EMI-Scans in Kontinentaleuropa,
ein Meilenstein in der Geschichte der
Neurologie,wobei besonders Hansruedi Müller die
treibende Kraft dazu gewesen war. Im
Jahre 1977 erfolgte der Umzug der Neurologie von
der Socinstrasse ins Kantonsspital. Auf diese Weise
konnte die Neurologie mit allen anderen Kliniken
zusammenarbeiten, vor allem auch die unmittelbare
Nähe der Intensivstation war ein wichtiger
Schritt für die Weiterentwicklung der Neurologie,
insbesondere auf dem Gebiet der zerebrovaskulären
Erkrankungen. Die Einführung der Neuropsychologie
respektive der Verhaltensneurologie
war ein weiteres Verdienst von Heinrich Käser und
Thierry Ettlin. Von 1968 bis zu seiner Emeritierung
1992 amtete er als Herausgeber der Zeitschrift
European Neurology, eine Zeitschrift, die von
Wernicke im Jahre 1897 als Monatszeitschrift
für Psychiatrie und Neurologie gegründet worden
war. Die Eröffnung des Zentrums für Lehre und
Forschung im Jahre 1978, unter der Leitung von
Prof. A. Pletscher, ermöglichte es, Räumlichkeiten
für die neurologische Forschung zu schaffen. Zusammen
mit Prof. C. G. Honegger sind Arbeiten
über die experimentelle Autoimmunenzephalomyelitis
entstanden.
Andreas J. Steck (1942)
– Fortsetzung der Tradition der Neuroimmunologie
Ab Januar 1993 übernahm Andreas J. Steck das Amt des Vorstehers
und Chefarztes der Neurologischen Universitätsklinik
im Kantonsspital Basel, beide Ämter leitete
er bis Juni 2007. Als Sohn des bekannten Psychiaters
und Neurologen Hans Steck hat er sich nach
Abschluss des Medizinstudiums in Bern für das
neurologische Fachgebiet anlässlich eines längeren
Aufenthaltes in den USA entschieden. Im Jahre
1982 erhielt er von der Schweizerischen Akademie
der Medizinischen Wissenschaften den Robert-Bing-Preis für seine wissenschaftliche Tätigkeit auf
dem Gebiet der demyelinisierenden Erkrankungen.
Auf diese Weise wurde mit ihm die Tradition
des Schwerpunkts Neuroimmunologie weitergeführt,
denn bereits Georgi hat sich für die Multiple
Sklerose interessiert. Andreas J. Steck war von
1994 bis 1995 Präsident der Schweizerischen Neurologischen
Gesellschaft und von 1996 bis 1997
Präsident der European Neurological Society. Er
ist seit 1994 Co-Chefredaktor des Schweizer Archivs
für Neurologie und Psychiatrie. Andreas J.
Steck vollzog mit dem Aufbau einer Stroke-Unit
einen Wechsel zur Akutneurologie; damit konnten
die Schlaganfallpatienten unter Einbezug modernster
Entwicklung durch bildgebende Verfahre
optimal behandelt werden.
Leiter der Stroke-Unit ist Prof. Ph. Lyrer. Chefarztstellvertreter und Leiter der Neurologischen Poliklinik, die seit 1994 gemeinsam mit den Neurochirurgen als Neurologisch- Neurochirurgische Poliklinik geführt wird, ist Prof. L. Kappos, der 1998 ein Extraordinariat für klinische Neuroimmunologie erhielt. Die beiden Labors EMG und EEG wurden in eine Abteilung Klinische Neurophysiologie unter der Leitung von Prof. P. Fuhr zusammengefasst. Die Forschungslaboratorien unter der Leitung von Frau Prof. N. Schären-Wiemers wechselten zusammen mit anderen neurobiologischen Forschungsgruppen vom alten Standort im Departement Forschung in die modernen Räumlichkeiten des Pharmazentrums. Auf dem wichtigen Gebiet der Neuropsychologie wurde die Zusammenarbeit im Rahmen des Neuropsychologie-Zentrums unter der Leitung von Prof. A. Monsch institutionalisiert. Die Neurologie wurde 2003 in den Bereich Medizin integriert. 2004 wurde das Kantonsspital Basel in Universitätsspital Basel (USB) umbenannt.
Die Jahresberichte als Spiegel rasanter Entwicklungen
Die drei Jahresberichte,
die in der Ära Steck herausgegeben
wurden, zeigen die rasante Entwicklung der Neurologie in den letzten 15 Jahren. Der erste Fünfjahresbericht (1993–1997) stellt die Neustrukturierung der Neurologie vor. Der stationäre Bereich wurde an die
neuen Anforderungen der Akutneurologie angepasst
und ein Konzept zur koordinierten interdisziplinären
Schlaganfallbehandlung (Stroke-Unit)
geschaffen. Das Neurobiologie-Labor im Departement
Forschung diente als Plattform für den Aufbau
der wissenschaftlichen Arbeit auf dem Gebiet
der Neurobiologie und der Neuroimmunologie.
Der zweite Sechsjahresbericht (1998–2003) gibt einen detaillierten Einblick in die klinischen und wissenschaftlichen Sparten der Neurologischen Klinik. Er spiegelt den starken Ausbau der Klinik und den Aufbau zahlreicher wissenschaftlicher Arbeitsgruppen wider: Zerebrovaskuläre Erkrankungen, Bewegungsstörungen, Epilepsie, Multiple Sklerose, Klinische Neurophysiologie, Neurobiologie, Klinische Neuroimmunologie und Neuromuskuläre Erkrankungen.
Der letzte Bericht umfasst die Dreijahresperiode 2004– 2006. Dieser Zeitraum wurde durch folgende Ereignisse geprägt:
- Mit der Etablierung der Assistenzprofessur in der Multiple-Sklerose-Forschungsgruppe,deren Inhaber Prof.A. Gass ist,wurde die Kooperation mit der Neuroradiologie intensiviert.
- Mit dem Bezug des 7. Stockwerks des Pharmazentrums durch die Forschungsgruppen der Neurologischen und Neurochirurgischen Klinik wurde die räumliche Zusammenführung des Departements Klinisch-Biologische Wissenschaften (DKBW), Schwerpunkt Neurobiologie, realisiert. Damit bietet der DKBW Schwerpunkt Neurobiologie eine ideale Plattform für einen regen Austausch zwischen Grundlagenforschern und klinischen Forschern.
- Im Januar 2006 fand das Kick-off-Meeting des Klinischen Hirnzentrums statt. Das Klinische Hirnzentrum (KHZ) wurde ins Leben gerufen, um die Zusammenarbeit der klinisch-neurowissenschaftlich tätigen Kliniken und Institute am Universitätsspital Basel zu fördern. Mitglieder des Klinischen Hirnzentrums sind die Neurochirurgische Klinik, das Memory-Clinic- Neuropsychologiezentrum, die Neuroradiologie, die Psychiatrische Universitäts-Poliklinik und die Neurologische Universitäts-Klinik und -Poliklinik sowie die Neuropathologie.Das Klinische Hirnzentrum hat sich zum Ziel gesetzt, interdisziplinäre Forschungsveranstaltungen zu organisieren.
- Zur Verbesserung der Betreuung von Patienten mit neuromuskulären Erkrankungen wurde in Kooperation mit der Schweizerischen Gesellschaft für Muskelkranke (SGMK) ein interdisziplinäres Neuromuskuläres Zentrum (NMZ) für Erwachsene und Kinder gegründet.
Mehr als 100 Jahre Neurologiein Basel – Ein Fazit
Die Geschichte der Neurologie Basel begann 1907
mit Robert Bing, und zum Anlass des 100-Jahr-Jubiläums der Neurologie fand am 9. Juni 2007 am
Universitätsspital Basel ein Symposium in Anwesenheit
der universitären und Spital-Behörden
statt, an dem Gäste aus der Regio, der Schweiz
und dem Ausland teilnahmen. Die Neurologie des
dritten Millenniums ist ohne Beitrag der bildgebenden
Verfahren, neuroimmunologischer, neurobiologischer
und neurogenetischer Kenntnisse
nicht vorstellbar. Dennoch bleibt die klassische
neurologische Lehre von Robert Bing, mit dem
Aufblühen der topischen Diagnostik, im Mittelpunkt
der klinischen Tätigkeit des Neurologen.
Die Basler Neurologie hat unter der Leitung der letzten vier ordentlichen Professoren ihren Tätigkeitskreis und ihre Ausstrahlung immer weiter entwickelt, und die wissenschaftlichen Arbeiten, die in der Basler Klinik auf dem Gebiet der Hirnforschung, der Neurophysiologie und der klinischen Neurologie entstanden, erhielten nicht nur nationale, sondern auch internationale Anerkennung. Die Schweizer Neurologie kann auf eine lange und erfolgreiche publizistische Tradition zurückschauen. Seit Robert Bings Lehrbuch der Nervenkrankheiten, dem 1909 erschienenen ersten schweizerischen Neurologielehrbuch, ist eine Reihe von erfolgreichen Neurologielehrbüchern veröffentlicht worden, die weit über die Grenzen unseres Landes bekannt wurden. Die Herausgabe eines Schweizer Vielautoren-Neurologie-Lehrbuchs 2002, worin Spezialisten aller fünf Neurologischen Universitätskliniken und der Neurologischen Kliniken Aarau und St. Gallen vertreten sind, entstand aus der Überlegung, das gewaltig akkumulierte neurologische Fachwissen der Schweizer Neurologischen Kliniken den Studierenden und Neurologen deutscher und französischer Muttersprache zu vermitteln. Dieses Buch widerspiegelt auch die Einheit und Zusammenarbeit, welche die Schweizerischen Neurologischen Kliniken und ihre Mitarbeiter untereinander pflegen.
Die Schweizer Neurologie ist mit denjenigen aller Länder seit Jahrzehnten eng verbunden, und die Basler Neurologie konnte sich mit ihrer Schlüsselposition über all die Jahre als Bindeglied zwischen dem deutschen und französischen Sprachraum behaupten, eine Rolle, die die Schweizer Neurologie und besonders die Schweizerische Neurologische Gesellschaft dank ihrer Multikulturalität seit ihrer Gründung 1908 in Europa gespielt haben.