Die Festrede von Rektor Ernst Staehelin zur Einweihung des neuen Kollegiengebäudes am 10. Juni 1939 im Münster.
Sonnig war dieser Samstag im Juni und verhiess, siegreich zu werden. In
jede Familie sei die Kunde vom Universitätsfest gedrungen, der
Pulsschlag des Gemeinwesens ging höher, die ganze Stadt wartete freudig
bewegt. Hunderte mussten am Münster abgewiesen werden, schreibt der
Staatsarchivar Paul Roth später in seinem offiziellen Festbericht. «Das
Münster füllte sich zum letzten Platze und zur hintersten Ecke.»
In diesem vollbesetzten Münster ergriff kurz nach 9 Uhr zuerst
Regierungsrat Fritz Hauser das Wort, drückte seine «tiefe Rührung und
Ergriffenheit» aus, bevor er dem neuen Rektor, Ernst Staehlin, das
Rednerpodium überliess.
Dessen Festrede fällt im Kontext der Universitätsjubiläen gleich
doppelt aus dem Rahmen. Da wäre zum einen – und banalerweise – der
Anlass. Staehlin spricht zur Festgemeinde, weil ein neues Gebäude
eingeweiht wird, nicht weil sich die Gründung der Universität jährt.
Zum anderen bedeutet Staehlins Rede einen Bruch mit den Jubiläumsreden
der vergangenen Jahrhunderte. Der neue Rektor hält sich nicht mit einer
detaillierten Beschreibung der Ereignisse der vergangenen 400 Jahre
auf. Er nimmt die grossen Umbrüche in der Universitäts-Geschichte zum
Anlass, ein übergreifendes Leitmotiv zu skizzieren, das die Universität
nicht nur über die Jahrhunderte zusammengehalten hat, sondern auch
direkt in die Zukunft weist. Dass Staehlin dabei auf die detaillierte
Chronik verzichtet, ist eine Konsequenz des Anlasses. 21 Jahre später,
als Staehlin erneut am Rednerpodium des Münsters steht und die
Festgemeinde zur 500-Jahr-Feier begrüsst, wird er sich in die Tradition
seiner Vorgänger einreihen und die Geschichte der Universität
ausführlich schildern. Gleichzeitig wird er aber das Thema seiner
Festrede aus dem Jahr 1939 wieder aufnehmen und ausbauen. In dieser
Hinsicht ist die Festrede zur Eröffnung des Kollegiengebäudes das
Fundament seiner späteren und «richtigen» Jubiläumsrede im Jahr 1960.
Sinn und Aufgabe
Ausgangspunkt von Staehlins Rede an diesem sonnigen und siegreichen Tag
im Juni 1939 war das neue, noch leere Gebäude. «Zugleich bewegt uns die
ernste Frage, ob es uns wohl gegeben sein werde, das neue Heim nicht
nur zu beziehen, sondern es auch mit dem hohen und hehren Inhalt zu
füllen, für den es geschaffen wurde, ob es uns wohl auch geschenkt sein
werde, die neue Stätte zu einem Orte letzter Wahrheit und höchster
Weisheit und Wissenschaft zu machen», beginnt der Rektor seine
Ansprache. Es sei darum nicht unangebracht, in dieser festlichen Stunde
«Sinn und Aufgabe der Universität Basel» sich mit «neuer Klarheit vor
die Seele zu stellen».
Dieser Sinn und diese Aufgabe habe sich in den vielen Jahren seit
der Gründung der Universität nicht verändert. Noch immer sei
Wissenschaft, das «leidenschaftliche Streben, die Fülle des Universums
immer umfassender und tiefer für die Erkenntnis des menschlichen
Geistes und für die Beherrschung durch den menschlichen Geist zu
erobern.» Dabei gehe es allerdings nicht um das positivistische
Anhäufen von Wissen, denn dies sei ohne Sinn und Zweck. «All diese
Arbeit geschah im Zeichen einer ganz bestimmten Leitidee. Es ist die
Idee der Humanität.» Schlichtweg alles, die Erkundung der Natur, der
Geschichte, alles normative Denken ziele darauf ab, den Menschen als
«Geheimnis aller Geheimnisse» emporzubilden und zu seiner höchsten
Bestimmung zu erheben.
Dieser Geist der Humanität lasse sich in der gesamten Geschichte der
Universität beobachten und vor allem an deren grossen Umbrüchen. In der
Stiftungsbulle von 1459, in einer Rektorenrede nach der Neugründung der
Universität im Rahmen der Reformation oder im neuen Universitätsgesetz
von 1818. An den Wendepunkten der Geschichte der hohen Schule erkennt
Staehlin das Leitmotiv seiner Universität wieder. So habe der ehemalige
Rektor Wilhelm Martin Leberecht de Wette in seiner Rektoratsrede nach
der Reorganisation der Universität 1823 die Wissenschaft in die
«höchsten Höhen der Humanität» gewiesen: Der Geist der Wissenschaften
hebe seine Schwingen empor zum lichten Äther… Die Rede von de Wette
muss Staehlin begeistert haben – 21 Jahre später wird er wieder aus ihr
zitieren.
Die an Gott gebundene Humanität
Der Rektor entwickelt seinen Gedanken zur Humanität konsequent
weiter und geht dabei höchst logisch vor. Ein Thema baut auf das
nächste auf. Die Definition der Wissenschaft. Die Wissenschaft im
Geiste der Humanität und im Laufe der Geschichte. Und nun die Humanität
selbst. Diese sei keine losgelöste, keine freischwebende, sondern sei
in «hohem Masse hineingehoben in die Welt der biblischen Offenbarung
und durch sie geprägt.»
Jeder bedeutende Mann an der Universität Basel habe seine Humanität als
eine an Gott gebundene Humanität begriffen, sagt Staehelin. Mit der
Humanität, der man dienen wolle, meine man nicht zuletzt die Entfaltung
der dem Menschen in der Schöpfung verliehenen Gottebenenbildlichkeit,
wie sie in Christus geschenkt sei: «Damit erhielt die Humanität eine
letzte Weihe, Heiligung, Bindung und Füllung.»
Der Rektor fasst zusammen: Die geistige Leistung der Universität Basel
baue sich in drei Stufen auf. Das Forschen in den Fachbereichen, diese
Arbeit im Bewusstsein der Würde des Menschen zu tun und das wiederum in
Beziehung setzen zur Bestimmung des Menschen, die ihm in der Welt des
Christus offenbart wurde. Sinn und Sendung der Universität sei es, die
akademische Jugend in diese «erhabene Hierarchie der Werte und
Wahrheiten» hineinzubilden.
Denn alles Forschen, alle wissenschaftliche Facharbeit habe keinen
Sinn, wenn dies nicht im Dienste einer höheren Idee stehe. Ja, sie
könne gar in Unsegen und Unheil ausschlagen. «Diese höhere Idee und
diese umfassende Wahrheit kann auch heute keine andere sein als
diejenige, die die grössten Geister der Menschengeschichte seit
Jahrtausenden erahnt haben, nämlich die, den Menschen als das Geheimnis
aller Geheimnisse und das Wunder der Wunder im Bereiche des Universums
zu Freiheit und Grösse und Würde emporzubilden.»
Nietzsches Schrei
An dieser Stelle wird Staehlins Rede immer
eindringlicher und intensiver und zum ersten Mal wird der Kontext
deutlich, in dem die Feier abgehalten wird. Es ist Juni im Jahr 1939,
in zwei Monaten wird Adolf Hitlers Armee Polen angreifen. Staehlin wird
nicht konkret, seine Anspielungen sind allerdings mehr als eindeutig.
Er erwähnt einen alten Lehrer der Basler Universität, der nach der
Humanität gerufen habe, sich aber nicht mit dem Ruf nach dem Menschen
begnügte, sondern nach dem Übermenschen geschrien habe: «Und jetzt
geschieht es, dass in seinem Namen der Untermensch gezüchtet wird.»
Staehelin kann hier nur den Philosophen Friedrich Nietzsche und sein
Konzept des Übermenschen meinen, das in Hitlers Nationalsozialismus
eine grausame Umsetzung in die Realität erfuhr.
Das ist der Kontext in dem Staehelins folgender und beinahe flehenden
Satz zu verstehen ist: «So ist es auch heute wieder nötig, und heute
nötiger denn je, dass unser Humanitätsideal und unser Streben, es zu
verwirklichen, wenn sie nicht dämonischen Mächten verschlungen werden
sollen, in die Welt und Wirklichkeit einer uns aus der Ewigkeit
heruntergeschenkten Wahrheit eingebaut werden, in die Welt der in
Christus offenbar gewordenen göttlichen Humanität.»
In diesem Sinne nehme die Universität das neue Kollegiengebäude in
Empfang und in diesem Sinne bedanke er sich beim Basler Volk.
Und ganz in diesem Sinne schloss Rektor Staehelin seine Festrede.