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«Lob der Kleinheit»
Die Festrede von Professor D. Eberhard Vischer zur Vierhundertfünfzigjahrfeier der Universität Basel am 24. Juni 1910 im Münster.
Die Strassen reich beflaggt, das Publikum zahlreich, das Wetter
leidlich: Ein «prächtiges Bild» habe der Zug ins Münster an diesem
Freitag, den 24. Juni 1910, geboten, schreibt der damalige Rektor Karl
von der Mühll in seinem Festbericht. Voran die Studentenschaft in ihren
Fahnen, danach der Rektor mit seinen Dekanen, die Ehrengäste, die hohe
Regierung von Basel-Stadt, die Abgeordneten des hohen Regierungsrats
von Basel-Landschaft, Mitglieder des Grossen Rats, des Bürgerrats, der
Lehrkörper der Universität, die ehemaligen Studierenden und ganz zum
Schluss die Zünfte und Ehrengesellschaften – sie alle streben an diesem
Freitagmorgen ins Münster. Das Programm der 450-Jahr-Feier ist dicht
gedrängt: Morgens der offizielle Festakt in der Aula, mittags die Feier
im Münster, abends der Kommers auf dem Bahnhofsplatz. Die Gedrängtheit
ist Absicht: «Dem halbhundertjährigen Jubiläum entsprechend konnte es
sich nur um eine Feier bescheidenen Umfangs handeln», schreibt der
Rektor in seinem Festbericht.
Anders als bei allen anderen Jubelfeiern der Universität steigt nicht
der aktuelle Rektor auf die Kanzel sondern sein Nachfolger, Professor
D. Eberhard Vischer, der im Jahr darauf das Rektorenamt übernehmen
wird. Warum Von der Mühll den Platz während der Festrede seinem
Nachfolger überlässt, wird weder aus der Rede noch aus dem Festbericht
ersichtlich. Der Rektor kam allerdings auch so zu genügend Redezeit.
Während des offiziellen Festakts in der Aula verdankte er die
verschiedenen Reden und Geschenke der Ehrengäste und am Abend vor der
eigentlichen Feier nahm er am traditionellen Fackelzug der
Studentenschaft teil und hielt ebenfalls eine Ansprache.
Dankbare Erinnerung
Auch ohne gewählter Rektor der Universität zu sein, hält sich Eberhard
Vischer streng an den Duktus und Aufbau früherer Jubiläumsansprachen,
die in erster Linie die Geschichte der Universität zum Thema hatten.
Vischer fügt dem streng chronologischen Abriss der Geschichte der Uni
seine eigene Facette hinzu und verquickt während der gesamten Rede das
Schicksal der Universität mit dem Schicksal der Stadt Basel:
«Vielleicht ist keine einzige Universität allmählich so sehr mit dem
Boden, von dem sie ihre Wirksamkeit entfaltet, verwachsen wie die,
deren Jubiläum wir heute feiern. Ja, es hat Zeiten gegeben, wo die
Geschichte der Basler Hochschule fast vollständig in der Geschichte der
Stadt unterging.» Jede Universität auf der ganzen Welt habe neben der
gemeinsamen Idee, der Idee e i n e r Wissenschaft, auch eine
individuelle Geschichte. Diese sei es, die die einzelne Universität
über die Bedeutung einer blossen Nummer erhebe und jeder – auch der
kleinsten – Vorzüge gebe, die sie mit keiner anderen hohen Schule
teilt.
Im Fall von Basel sei die individuelle Geschichte derart ausgeprägt wie
bei wenigen anderen Universitäten. Selbst in der «Periode des tiefsten
Niedergangs» habe es der Stadt nicht an Männern gemangelt, die den
Kontakt mit der «grossen, internationalen Gelehrtenrepublik» nicht
abreissen liessen. Auch habe die Universität ihre Gründung der
Initiative der Stadt zu verdanken. Bereits diese Gründung, fährt
Vischer in seiner Rede fort, zeige Züge des typischen «Basler
Charakters», von dem man sage, er ergreife nur nach reiflicher
Überlegung das Neue, halte aber das einmal Erfasste «mit
Entschiedenheit und Liebe» fest und verteidige es mit «Zähigkeit und
Klugheit».
Krisen und Blütezeiten
Ausführlich schildert Vischer die erste Blütezeit der Universität, die
Freigiebigkeit der Stadt, die ansehnliche Anzahl von Studierenden, die
«bedeutenden Männer von Ruf», die es nach Basel zog. In dieser
Blütezeit habe sich deutlich gezeigt, «wie das Gedeihen der hohen
Schule und das der Stadt miteinander verbunden waren und sich
gegenseitig förderten». Am Beispiel des raschen Aufkommens des
Buchdrucks und dem damit verbundenen Aufschwung der Stadt zeigt
Vischer, wie Basel zu einem «Mittelpunkt geistigen Lebens» wurde.
Ausschweifend hangelt sich Vischer in der Folge von Blütezeiten zu
Krisen und wieder zurück. Er zeigt grösstes Geschick darin, den
Problemen der Universität immer auch eine positive Seite abzugewinnen.
Zwar habe die Universität während der Reformation viele ihrer Rechte
und Privilegien verloren – aber gleichzeitig habe sich die Stadt
deutlich zur Schule bekannt. Zwar erlebte die Universität im 17.
Jahrhundert ihre schwierigste Zeit – ging aber gestärkt daraus hervor.
Zwar habe die Kantonstrennung der Universität einen schweren Schlag
versetzt – aber nie sei die Verbindung zwischen Stadt und Schule
stärker als nach diesen Wirren gewesen. Zwar sei es ein Unikum, dass
die Hochschule ihre Lehrstühle jahrhundertelang fast ausschliesslich
mit Bürgern einer Stadt von etwa 20000 Einwohnern besetze – aber es sei
erstaunlich, dass man damit gar nicht schlecht gefahren sei. Hundert
Jahre lang war die Mathematik-Professur in den Händen der Familie
Bernoulli, noch länger sassen Mitglieder der Familie Buxtorf auf dem
Lehrstuhl für hebräische Sprache. «Diese Gelehrten hätten j e d e r
Hochschule zur Zierde gereicht», sagt Vischer. Die Vorliebe für alte
Basler Geschlechter habe sich bis zum heutigen Tag gehalten, er selber
sei ein solcher Spross. Trotzdem dürfe er die Behauptung aussprechen,
«dass wir in dieser Tatsache kein beunruhigendes Rückfallsymptom zu
wittern brauchen, sondern uns ihrer als eines Bandes freuen dürfen, das
auch in Zukunft Bürgerschaft und Universität zu gegenseitigem Gewinne
miteinander verbinden möge.»
Hemmnisse
Vischer beendet seinen Rückblick auf die Geschichte
der Universität und schaut zaghaft nach vorne. Auch wenn die
Universität heute, im Jahr 1910, siebenmal soviele Studenten wie vor 50
Jahren zähle, «werden wir niemals mit den Hochschulen grösserer Länder
rivalisieren können». Zu klein seien dazu die Verhältnisse, zu
bescheiden die Mittel. Das dürfe aber niemanden beunruhigen: «Empfinden
wir die Kleinheit unserer Verhältnisse zuweilen als ein Hemmnis, so hat
sie doch auch wieder ihre Vorteile.» Es sei einfacher dem Ideal einer
«Universitas» im ursprünglichen Sinn des Wortes nachzuleben und eine
Arbeitsgemeinschaft zu bilden, die sich anrege und gegenseitig fördere.
Und je mehr sich der Unterricht vom blossen Zuhören zum Mitmachen der
Studenten verlagere, werde deutlich werden, wie wichtig der persönliche
Verkehr zwischen Lehrer und Schüler sei. Das sei ein Vorzug gegenüber
jenen Universitäten, an denen «der berühmte Professor in unerreichbarer
Höhe thront».
Von der Kleinheit der Verhältnisse schliesst er zum Schluss der Rede
den Bogen zum Verhältnis zwischen Universität und Stadt - dem Kernthema
seiner Rede. Eindringlich appelliert er an die Zuhörer im Münster:
«Möge Basel um so eifriger an seiner hohen Schule festhalten, die es
seit Jahrhunderten besitzt, und deren Geschichte mit der seinen aufs
engste verbunden ist.» Und mögen umso mehr folgende Worte stets wahr
bleiben, mit denen Reformator Oekolampad die Vorzüge seiner Universität
einem ausländischen Gelehrten pries: «Das hat von jeher Basel gehabt,
dass seine Bürgerschaft den Gelehrten besonders geneigt gewesen ist.»
Möge sich die Liebe zur Wissenschaft, und das ist nun Vischers finaler
Appell, «immer aufs neue auch durch Taten kund tun».
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Themen
Quellen
- Vischer, Eberhard: «Festrede zum
450-Jahr-Jubiläum der Universität Basel, in: von der Mühll, Karl:
«Feier des 450-jährigen Bestehens der Universität Basel – Festbericht,
Basel: Helbing und Lichtenhahn, 1911, S. 28-53.
Literatur
- Brendecke,
Arndt: «Reden über Geschichte – Zur Rhetorik des Rückblicks in
Jubiläumsreden der Frühen Neuzeit», in: «Jubiläum, Jubiläum... zur
Geschichte öffentlicher und privater Erinnerung», Münch, Paul (Hg.),
Essen: Klartext, 2005, S. 61-83.
- «Historisches Wörterbuch der
Rhetorik», Ueding, Gert (Hg.), Red.: Kalivoda, Gregor; Robling,
Franz-Hubert; Tübingen: Max Niemeyer, 1992
- Maurer, Michael: «Feste und Feiern als historischer
Forschungsgegenstand», in: Historische Zeit- schrift Band 253, Gall,
Lothar (Hg.), München: R. Oldenbourg, 1991, S. 101-130.
-
Mitterauer, Michael: «Anniversarium und Jubiläum – Zur Entstehung und
Entwicklung öffentlicher Gedenktage», in: «Der Kampf ums Gedächtnis –
Öffentliche Gedenktage in Mitteleuropa», Brix, Emil; Stekl, Hannes
(Hg.), Wien: Böhlau Verlauf, 1997, S. 23-89.
-
Müller, Winfried: «Erinnern an die Gründung – Universitätsjubiläen,
Universitätsgeschichte und die Entstehung der Jubiläumskultur in der
frühen Neuzeit», in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte Band 21,
Organ der Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte, Weinheim: Wiley-VCH
Verlag, 1998, S. 79-102.
-
Münch, Paul: «Einleitung – Geschichte und Erinnerung», in: «Jubiläum,
Jubiläum... zur Geschichte öffentlicher und privater Erinnerung»,
Münch, Paul (Hg.), Essen: Klartext, 2005, S. 7-25.
- Staehelin, Ernst: «Programmatische Kundgebungen aus der Geschichte der Universität Basel», Basel: 1960.
- von
der Mühll, Karl: «Feier des 450-jährigen Bestehens der Universität
Basel – Festbericht», Basel: Helbing und Lichtenhahn, 1911.
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