Im Laufe des 20. Jahrhunderts hat sich die Basler Slavistik vom nicht selten misstrauisch beäugten Orchideenfach zur gleichberechtigten Partnerin im Konzert der Basler Neuphilologien entwickelt. Bis dorthin allerdings war ein dornenreicher Weg zurückzulegen.
Die Ära Mahler (1923-1957)
Am Anfang dieser Entwicklung steht der Name Elsa Mahler
(1882-1970). Die Einrichtung eines
Russischlektorats im Jahre 1923 verdankte sich einem durch die
Oktoberrevolution von 1917 in ganz Europa geweckten Interesse an
russischer
Sprache, Literatur, Geschichte, Kunst und Kultur.
Als Dozentin musste
sich
Mahler nicht nur gegen männliche Vorurteile, sondern auch gegen
ideologische
Ressentiments behaupten, wie etwa gegen die Unterstellung, sie betreibe
an der
Universität „hemmungslos kommunistische Propaganda“. Beschwerlich war
darüber
hinaus die ärmliche Ausstattung der Dozentur mit Lehrbüchern sowie mit
wissenschaftlicher und schöner Literatur. Erst seit den 1930er Jahren
verbesserte sich die Situation zum einen durch die Schenkung der
„Bibliothek
der Russlandschweizer in Basel“, zum anderen durch die Ankäufe Fritz
Liebs.
Elsa Mahler habilitierte sich 1928 und wurde 1938 zur Extraordinaria ernannt. Sie unterrichtete ihre Studenten nicht nur in russischer Sprache, sondern auch in Literaturgeschichte, Kunstgeschichte, Landes- und Volkskunde. Diese für die meisten Pioniere der Slavistik durchaus typische, wissenschaftsgeschichtlich noch auf das 19. Jahrhundert zurückweisende Vielseitigkeit schlug sich auch in Mahlers Publikationen nieder, zu denen Lehrwerke der russischen Sprache ebenso gehören wie kunstgeschichtliche und vor allem volkskundlich-ethnomusikalische Arbeiten. Bis heute gelten sie als Standardwerke.
Obwohl als einzige Vertreterin ihres Faches sozusagen
„Mädchen für alles“, standen Elsa Mahler an der
Philosophisch-Historischen
Fakultät doch zwei Kollegen zur Seite, die das Basler osteuropakundliche
Lehrangebot sinnvoll ergänzten.
Dies war zum einen der in Moskau geborene
Musikwissenschaftler Jaques Handschin (1886-1955), der von 1919 bis 1920
wissenschaftlicher Mitarbeiter am Volkskommissariat für Volksbildung
war, bevor
er 1921 in die Schweiz kam. Hier habilitierte er sich 1924. 1930 wurde
er zum
Extraordinarius, 1935 zum Ordinarius ernannt. In dieser Eigenschaft hat
sich
Handschin in Lehre und Forschung immer wieder auch mit russischen
Komponisten
des 19. Jahrhunderts sowie mit russischer Kirchen- und Volksmusik
beschäftigt.
Ein weiterer Weggefährte Elsa Mahlers war der bereits erwähnte, aus dem Baselbiet stammende Theologe Fritz Lieb (1892-1970). 1915 in die Sozialdemokratische Partei der Schweiz eingetreten und 1920 Gründungsmitglied der Schweizer Kommunistischen Partei, war Lieb fasziniert von der Oktoberrevolution, die er als politische Umsetzung eines typisch russischen, dem westlichen Individualismus entgegenstehenden Gemeinschaftssinnes deutete. 1930 auf eine Professur nach Bonn berufen, kehrte Lieb 1934 Nazideutschland den Rücken und liess sich, bis zu seiner endgültigen Rückkehr nach Basel 1936, in Frankreich nieder. Dort hielt er engen Kontakt zu führenden Köpfen der russischen Emigration, so vor allem zu den Philosophen Nikolaj Berdjajew (1874-1948) und Lew Schestow (1866-1938).
Als die sowjetische Regierung zwecks
Devisenbeschaffung die Bestände russischer Privat- und
Klosterbibliotheken auf
dem europäischen Markt anbot, erwarb Lieb mehrere Tausend Bände aus dem
Gebiet
der russischen Literatur und Geistesgeschichte des 18. bis 20.
Jahrhunderts.
Mit rund 12 000 Titeln, darunter wertvollen Erstausgaben, ist die
Bibliothek
Lieb heute als Bestandteil der Basler Universitätsbibliothek eine der
bedeutendsten kulturwissenschaftlichen Osteuropasammlungen Europas.
Enge
Beziehungen zur Pariser russischen Emigration hatte auch Elsa Mahler
selbst. So
korrespondierte sie etwa mit dem Literatur-Nobelpreisträger Iwan Bunin
(1870-1953) und der berühmten Dichterin Marina Zwetajewa (1892-1941).
Bevor sie
1939 in die Sowjetunion zurückkehrte, vertraute Zwetajewa einen grossen
Teil
ihrer Manuskripte Elsa Mahler an. Heute befinden sich diese im
Zwetajewa-Archiv
der Basler Universitätsbibliothek.
Da Elsa Mahler erst spät zur Professorin berufen wurde, sind für ihre Amtszeit nur vier Promotionen zu verzeichnen. Zwei dieser Doktoranden wurden später zu Hochschullehrern berufen.
Von der Russischen Bibliothek zum Slavischen Seminar (1964-1987)
Das Basler Russisch-Lektorat wurde zunächst als „Russische
Bibliothek“ im Rahmen der Indogermanistik geführt. 1949 wurde daraus das
„Russische Seminar“, 1952 dann das „Slavische Seminar“.
Dem Rücktritt Elsa
Mahlers im Jahre 1957 folgte ein siebenjähriges Interregnum, das erst 1964 mit
der Berufung von Hildegard Schroeder als Ordinaria für Slavische Philologie
beendet wurde – im Übrigen die erste Ordinaria an der Basler Universität.
Mit
diesem Ordinariat wurde die Basler Slavistik den anderen fremdsprachlichen
Philologien prinzipiell gleichgestellt. Darüber hinaus bekam sie durch die
Auffächerung des Lehrangebots in ost-, west- und südslavische Studien und durch
die Einrichtung entsprechender Sprachlektorate (Russisch, Polnisch,
Tschechisch, Bulgarisch, Serbokroatisch) ein Profil, das internationalen
Standards entsprach, auch wenn die Deputate in den einzelnen Lektoraten
teilweise sehr niedrig waren und oft, besonders während der Rezession der
1970er Jahre, nur dank zusätzlicher Gratisleistungen der Dozentinnen
didaktische Wirkung entfalten konnten.
Hildegard Schroeder (1914-1978) hatte
1943 in Berlin bei Max Vasmer mit einer Arbeit über den polnischen
Literaturkritiker Maurycy Mochnacki promoviert. Nach einer Tätigkeit als
Polnischlektorin und wissenschaftliche Assistentin in Greifswald und Leipzig
war sie 1952, also auf dem Höhepunkt des ostdeutschen Stalinismus, aus der DDR
geflohen. 1958 hatte sie sich in Köln habilitiert. Mit Annahme des Basler Rufes
schlug Schroeder zwei zeitgleiche Rufe auf Lehrstühle in Köln und Erlangen aus.
In Lehre und Forschung hat Schroeder das Profil der Basler
Slavistik für die folgenden Jahrzehnte auf den Schwerpunkt Slavische
Literaturwissenschaft festgelegt.
Dies entsprach zum einen der in der
Nachkriegsära vollzogenen Trennung aller grossen neusprachlichen Philologien in
die relativ autonomen Teildisziplinen Literaturwissenschaft und Linguistik, zum
anderen dem hinsichtlich der studentischen Nachfrage eindeutigen Vorrang der
ersten.
An eine Doppelprofessur für Literatur- und Sprachwissenschaft, wie sie
in Deutschland und Österreich selbst an kleineren Seminaren die Regel wurde,
war in Basel so wenig zu denken wie in Bern und Fribourg. Nur Zürich wollte und
konnte sich diesen „Luxus“ leisten. Dafür allerdings wurde das slavistische
Lehrangebot in Basel wirkungsvoll ergänzt durch das 1963 geschaffene Extraordinariat für „Geschichte der slavischen
Völker und ihre Sprachen“. Dessen Inhaber, Rudolf Bächtold (geb. 1917), der
1945 bei Elsa Mahler über den Schriftsteller und Historiker Nikolaj Karamsin
promoviert, sich hier 1950 über „Südwestrussland im Spätmittelalter“
habilitiert und seit 1953 einen
besoldeten Lehrauftrag wahrgenommen hatte, war in osteuropäischer
Geschichte gleicher Massen beschlagen wie in slavischer Philologie. Zusammen
mit Peter Brang (Zürich) und Michel Aucouturer (Genf) begründete Schroeder 1969
die inzwischen auf 80 Bände angewachsene Reihe „Slavica Helvetica“, in der
schweizerische Dissertationen und Habilitationsschriften sowie Kongress- und
Konferenzbeiträge erscheinen. Unter Schroeder wurden fünf Dissertationen zur
russischen Literaturgeschichte abgeschlossen.
Hildegard Schroeder verstarb ein Jahr vor dem Erreichen der
Altersgrenze. In der folgenden fast dreijährigen Vakanz wurde das Fach neben
Bächtold vertreten durch Wilhelm Lettenbauer, Inhaber des Lehrstuhls für
slavische Philologie an der Universität Freiburg i.Br.
1981 trat Peter Thiergen
(geb. 1939), der zuvor zwei Jahre an der Universität Frankfurt a. M. gelehrt
hatte, die Nachfolge von Hildegard Schroeder an. Thiergen hatte 1969 in Bonn
über Michail Cheraskows russisches Nationalepos „Rossijada“ promoviert und sich
1976 ebenda mit der kulturgeschichtlich breit angelegten Studie „Wilhelm
Heinrich Riehl in Russland“ habilitiert. Wie Hildegard Schroeder verstand sich
Thiergen als Literatur- und Kulturwissenschaftler. Deshalb suchte er immer
wieder den Dialog mit anderen Disziplinen, namentlich Philosophie, Germanistik
und klassischer Philologie.
Einen deutlichen Schwerpunkt in der Forschung
setzte Thiergen mit begriffs- und ideengeschichtlichen Studien aus dem Bereich
der russischen und südslavischen Literaturen. Es gelang ihm, das linguistische Defizit
des Slavischen Seminars durch einen zwar schmal bemessenen, aber regelmässigen
Gastlehrauftrag in Slavischer Sprachwissenschaft auszugleichen, der mehrfach
durch Werner Lehfeldt (damals Uni Konstanz), einen der führenden Vertreter der
modernen Slavischen Sprachwissenschaft in Deutschland, wahrgenommen wurde.
Dass
das Extraordinariat in Osteuropäischer Geschichte von Rudolf Bächtold nach
dessen Emeritierung 1983 nicht neu besetzt wurde, war für Thiergen ein
wesentlicher Grund, 1987 einem Ruf an die Universität Bamberg zu folgen.
Thiergen betreute zwei Promotionen zu Themen der neueren russischen
Literaturgeschichte und eine Habilitation.
Konsolidierung, Krise und Neubeginn (1989-2008)
Nach einer neuerlichen Vakanz von mehreren Semestern trat
zum Wintersemester 1989/90 Andreas Guski die Nachfolge von Peter Thiergen an.
Guski (geb. 1943) hatte 1970 in München mit einer Dissertation über den
russischen Romantiker M. Ju. Lermontov promoviert und sich 1985 an der Freien
Universität Berlin mit einer Studie zur sowjetischen Produktionsliteratur unter
dem Titel „Literatur und Arbeit“ habilitiert. Nach einer dreisemestrigen
Lehrstuhlvertretung in Oldenburg war er 1985 zum Professor für Slavische
Literaturwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum ernannt worden. In seinen
Basler Berufungsverhandlungen konnte Guski, dessen Schwerpunkte im Bereich der
russischen und tschechischen Literatur- und Kulturgeschichte lagen und der im
weiteren Rufe an die Universitäten Kiel (1991) und Potsdam (1993) ablehnte, die
personelle Ausstattung des Slavischen Seminars deutlich verbessern. Dies galt
zum einen für die Aufstockung sowohl des Deputats aller vier Sprachlektorate
als auch des sprachwissenschaftlichen Gastlehrauftrags auf das Lehrdeputat
einer halben Professur, zum anderen für die Stelle einer wissenschaftlichen
Mitarbeiterin (seit 1991 lic. phil. Elisabeth Maeder) für Seminarverwaltung und
Bibliotheksbetreuung, durch welche die Assistierenden weitgehend von
administrativen Aufgaben entlastet werden konnten.
Auch die materielle
Ausstattung des Seminars wurde 1990 erheblich verbessert, nicht zuletzt durch
den Umzug des Seminars von der Clarastrasse im Kleinbasel in den Südflügel des
altehrwürdigen und zentral gelegenen Anwesens am Nadelberg.
Ein besonderer
Erfolg war 1991 die Wiederbelebung der Professur für Osteuropäische Geschichte
und deren Neubesetzung mit Heiko Haumann (Freiburg i. Br.). Die enge und
fruchtbare Kooperation mit der Osteuropäischen Geschichte in Lehre und
Forschung ist seitdem ein besonderes Qualitätsmerkmal der Basler Slavistik
geworden. Sie mündete im Jahre 2000 in die gemeinsame Edition der Reihe „Basler
Studien zur Kulturgeschichte Osteuropas“. Beflügelt durch den Fall des Eisernen
Vorhangs im Jahr von Guskis Berufung, wuchs die Zahl der Studierenden, die bei
seinem Dienstantritt bei unter dreissig gelegen hatte, rasch auf etwa 100. Unter Guski wurden bisher zehn Promotionen in
Russischer bzw. Slavischer Sprach- und Literaturwissenschaft erfolgreich
abgeschlossen. Darüber hinaus gab es in seiner Amtszeit vier Habilitationen.
Dem Höhenflug der 1990er Jahre folgte zu Beginn des 21.
Jahrhunderts eine Krise, die das Fach in seinen Grundfesten erschüttern sollte.
Im Januar 2004, wenige Monate nach seiner Amtszeit als Dekan, in der Guski
wegen der anstehenden „Bologna-Reform“, aber auch wegen der drohenden, jedoch
erfolgreich verhinderten Aufspaltung der Philosophisch-Historischen Fakultät in
Sozial- und Geisteswissenschaften wiederholt in Konflikt mit der
Universitätsleitung geraten war, verfügte der Universitätsrat im Rahmen seiner
strategischen Planung die Schliessung mehrerer Fächer der Universität, darunter
per 1. Januar 2009 auch der Slavistik.
Aufgrund des wochenlangen massiven
Widerstands der Studierenden, aber auch angesichts der Unterstützung einer
breiten Öffentlichkeit sowie nicht zuletzt des weltweiten Protests der scientific community, der das
internationale Ansehen der Basler Slavistik bezeugte, revidierte der
Universitätsrat im April 2004 zwar seinen Streichungsbeschluss. Er beharrte
jedoch auf dem der Fakultät vorgegebenen Sparziel, das nunmehr nur durch
solidarische Opfer nahezu aller Fächer der Fakultät zu erbringen war, allen
voran der Slavistik selbst, die im Weiteren rund ein Drittel ihres Budgets
einbüsste. Die negative Dynamik des Stellenabbaus überlagerte sich mit der des
Bologna-Prozesses. Dieser führte dazu, dass das Fach Slavistik seit 2005 nur
noch auf Masterebene angeboten wird, während auf Bachelor-Ebene ein
integrierter Studiengang „Osteuropastudien“ und daneben, als kleinere Variante,
das Fach „Osteuropäische Kulturen“ mit der Wahlmöglichkeit eines weiteren
Faches eingerichtet wurde.
Vor dem Hintergrund der drastischen Mittelkürzung
schien das Umschalten auf die anspruchsvollen Profile der neuen Studiengänge
einer Quadratur des Kreises gleichzukommen. Nachdem die neuen Fächer inzwischen
von einer kompletten Bachelor-Generation durchlaufen wurden, lässt sich jedoch
feststellen, dass das zunächst fast unmöglich Erscheinende überraschend gut
gelungen ist.
Jahr für Jahr entscheiden sich seitdem mehr als zwanzig
Studienanfänger für die Osteuropa-Studien. Alle Evaluationen zeigen, dass das
Konzept der Fächer von den Studierenden angenommen wird.
Für sein neues Amt somit hervorragend qualifiziert, übernimmt Thomas Grob ein Haus, das in den fünfundachtzig Jahren seines Bestehens auf eine ansehnliche Leistungsbilanz zurückblicken kann. Generationen von Studierenden haben hier eine solide Ausbildung in Slavistik erhalten, dank deren es eine stattliche Zahl zu Führungspositionen in Kultur, Politik, Wirtschaft, Internationalen Organisationen und Medien gebracht hat. Acht Basler Doktoranden und Habilitanden wurden zu Hochschullehrern berufen.