Zur Zeit der Berufung Nietzsches hatte die Universität Basel mit einigen Schwierigkeiten zu kämpfen. Da war der finanzielle Aderlass, den die Kantonstrennung von Baselland und Baselstadt 1833 gebracht hatte. Seither fielen die Gelder aus der Landschaft aus, was auch noch in der zweiten Jahrhunderthälfte empfindlich spürbar blieb. Da war aber auch eine neue binnenschweizerische Konkurrenzsituation, mit der sich die alte Universität konfrontiert sah.
Die neu gegründeten Universitäten in Zürich (1833) und Bern (1834), nicht zuletzt auch das jüngst eröffnete Eidgenössische Polytechnikum (1855, heute ETH) bremsten den studentischen Zustrom an die Universität Basel. Während es auf der einen Seite an Studenten mangelte, fehlten auf der anderen Seite die Mittel, um vakante Lehrstühle zu besetzen. So war die Basler Universität Ende der 1860er Jahre in mancher Hinsicht nicht viel mehr als eine blosse Übergangs- und Vorbereitungsschule. Für das Studium in höheren Semestern oder für die Erlangung der Doktorwürde musste man nicht selten einen Universitätswechsel in Kauf nehmen.
Ordinarien auf kurze Dauer
Renommierte
Gelehrte anzuziehen, vermochte die Universität in diesen schwierigen
Jahren kaum und so hatte man in der Berufungspolitik unkonventionelle
Wege zu beschreiten, um einem zunehmenden Verwaisen der Lehrstühle
entgegenzuwirken. Dazu gehörte die Berufung einer Reihe sehr junger,
nachmals berühmter deutscher Professoren, die in ihrer Anstellung in
Basel allerdings häufig nicht viel mehr als ein Dozentenpraktikum
sahen, das ihnen den Sprung an renommiertere deutsche Hochschulen
erleichtern sollte. Diese Einstellung hatte man in Basel hinzunehmen.
Denn aufgrund der geringen Studentenzahlen war der eigene Nachwuchs zu
klein, um den gesamten Lehrkörper zu stellen.
Wollte man das Ansehen der Universität und ihren Bestand nicht weiter gefährden, durfte man einen wichtigen Lehrstuhl nicht auf längere Zeit hin unbesetzt lassen. Wenn man keinen etablierten Professor auf Jahre hin verpflichten konnte, war man deshalb schon zufrieden, junge Akademiker auf kürzere Dauer halten zu können. Und waren diese Nachwuchsprofessoren, was ihre Treue zur Basler Universität anging, zwar nicht sehr verlässlich, so hatten sie doch einen nicht zu unterschätzenden Vorteil: Sie waren billig zu haben und darüber hinaus häufig bereit, eine Anstellung kurzfristig anzutreten. Das Kommen und Gehen an den verschiedenen Basler Fakultäten war unter diesen Umständen durchaus tragbar. Darüber hinaus förderte es nicht zuletzt die internationale Vernetzung der Universität, was die Neubesetzung der immer wieder frei werdenden Lehrstühle beträchtlich erleichterte.
Basel und die Schule Ritschl
Ein Beispiel dafür ist der Basler Lehrstuhl für Klassische
Philologie. Nachdem der zuvor in Bern lehrende Altphilologe Otto
Ribbeck, damals 34-jährig, Basel 1862 nach nur einem Jahr wieder
verliess, suchte man nach einer raschen Nachfolge. Ribbeck hatte beim
berühmten Philologen Friedrich Ritschl studiert und Basel nutzte diesen
Kontakt, um den Lehrstuhl erneut mit einem Ritschl-Schüler zu besetzen.
So folgte noch im selben Jahr der 25-jährige Adolf Kiessling, der 1869
nach Hamburg weiterzog. Erneut galt es einen Nachfolger zu bestimmen
und wieder lag ein Nachschub aus der Schule Ritschl nahe. Auf Anfrage
Kiesslings empfahl Ritschl seinen Leipziger Studenten Friedrich
Nietzsche, dem er in seinem Empfehlungsschreiben eine ausserordentliche
Energie, einen scharfen Intellekt und einen ungewöhnlichen
philosophischen Ernst attestierte. Zwar hatte der junge Nietzsche noch
nicht einmal promoviert, doch sorgte Ritschl dafür, dass Nietzsche noch
einen Monat vor seinem Amtsantritt, ohne allerdings die sonst übliche
mündliche Prüfung abgelegt zu haben, von der Universität Leipzig den
Grad eines Doktors erhielt. Die Anstellung Nietzsches war also auf eher
informellem Wege angebahnt.
Dies bewegte denn auch den Altphilologen Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, der später zum führenden Vertreter seines Faches aufsteigen sollte, in dieser Angelegenheit den Vorwurf des Nepotismus zu erheben. Allerdings gilt es sich bewusst zu halten, dass Wilamowitz seit dem Erscheinen von Nietzsches Geburt der Tragödie Anfang 1872 zu den prominentesten Gegnern der von Nietzsche betriebenen Philologie gehörte. Diese begann sich von der akademischen Akribie zu lösen und sich einer allgemein kulturphilosophischen Betrachtung zuzuwenden, was einigen Gelehrten missfiel. Der Vorwurf des Nepotismus ist deshalb wohl mehr einer nachträglichen Kritik an Nietzsches weiterer Entwicklung geschuldet und trifft bei genauerer Betrachtung nicht den Kern der Sache. Denn einerseits hatte sich Nietzsche vor seiner Berufung nach Basel bereits durch viel beachtete Veröffentlichungen zum spätantiken Philosophiehistoriker Diogenes Laertios ausgewiesen, andererseits liess die dringende Nachfolgefrage kein breit angelegtes Berufungsverfahren zu.
Rasche Berufung und baldiger Rücktritt
Die schnelle Berufung des jungen Nietzsche war für die Universität
Basel ein weitgehend pragmatischer Entscheid. Er entsprach mehr
praktischer Notwendigkeit als dem dringenden Wunsch, sich eines jungen
Genies über alle administrativen Hürden hinweg zu versichern. Zwar ahnte man wohl in Leipzig wie in Basel, dass es sich bei Nietzsche um
einen viel versprechenden Wissenschaftler handelte, wichtiger für Basel
war aber sicherlich, dass Nietzsche auch den festen Willen zeigte, hier
sesshaft zu werden. Auf eigenen Wunsch legte er seine preussische Staatsbürgerschaft ab, brach auf diese Weise mit seinem Herkunftsort und wurde staatenlos; von Nietzsche
durfte man sich deshalb in Basel etwas Kontinuität erwarten. Und dies zählte
nach vielen kurzfristigen Wechseln auch in anderen Fakultäten gewiss
mehr als die Hoffnung, für die Universität einen brillanten Geist zu
gewinnen. Dass es dann anders kam als erwartet, konnte damals noch
niemand wissen. Aus gesundheitlichen Gründen musste Nietzsche seinen
Lehrstuhl schon nach zehnjähriger Amtszeit 1879 definitiv aufgeben und
für die Universität Basel blieb die ersehnte Kontinuität ein weiteres
Mal aus.