In der Bibliothek des Tropeninstituts an der Socinstrasse in Basel befindet sich ein unscheinbarer
Holzschrank, wie man sie oft in jenen Räumen findet, deren Bestimmung es ist, ein Stück Vergangenheit
in irgendeiner Form zu konservieren. Sein Inhalt umfasst unter anderem eine geraume Anzahl
alter Fotografien, die, aufgeklebt auf hellgrauem Pappkarton, die Tätigkeit des Schweizerischen
Tropeninstituts in Afrika dokumentieren. Sie sind mit «L’Afrique qui disparaît» überschrieben.
Männer in bunter Häuptlingstracht oder unheimlich starren Masken tanzen dem staunenden Betrachter
entgegen, Frauen, die gerade dabei waren, mit langen Holzmörsern ihre Nahrung zu zermalmen,
halten auf eigentümliche Weise inne, durch den Augenblick des Fotos in eine unnatürliche
Starre versetzt. Einige Bilder folgen in hastigen Serien aufeinander und zergliedern die Zeit. Einzelne
wenige Abbildungen können sich rühmen, eine bescheidene Karriere in der institutseigenen
Fachzeitschrift «Acta Tropica» angetreten zu haben, wo sie mirt ihrer scheinbarer Autorität, mit ihrem
«es-ist-so-gewesen» den wissenschaftlichen Ausführungen zusätzliches Gewicht verliehen.
Die meisten anderen aber ereilte ein paradoxes Schicksal: waren sie einmal dazu angetreten, eine
verschwindende Kultur in sich selbst aufzuheben, so wurden sie selbst dem Vergessen anheim
gegeben, ausgebleicht durch die Schatten der Zeit.
Der eigentümliche Drang, fremde Kulturen vor den Einflüssen der eigenen, maroden Zivilisation zu bewahren, zieht sich wie ein roter Faden durch die westliche Geistesgeschichte. Die «traurigen Tropen» des französischen Ethnologen und Strukturalisten Claude Lévi-Strauss atmen diesen Geist ebenso, wie das 1922 vom Basler Naturforscher Fritz Sarasin veröffentlichte Buch über Melanesien, «....gedacht als ein Denkmal für eines der vielen, durch die Berührung mit der europäsichen Kultur langsam dahinschwindenden Völker des Pazifischen Ozeans.» Johannes Fabian hat einmal überzeugend dargelegt, wie die Anthropologie eine zeitliche Distanz zwischen Wissenschaft und «ihrem» Objekt konstruiert. Die Anthropologie, so argumentierte er «...promoted a scheme in terms of which not only past cultures, but all living societies were irrevocably placed on a temporal slope, a stream of time – some upstream, others downstream.»
Das Festschreiben einer als fremd wahrgenommenen Gesellschaft hat eigentümliche Praktiken zur Folge, die ihrerseits zum Wissen über die besagte fremde Gesellschaft beitragen: Die Rede ist vom Sammeln, Fixieren, mit dem Finger auf ein Objekt zeigen, im besten Fall vom Staunen. Die ersten Jahre der wissenschaftlichen Tätigkeit des Tropeninstituts sind stark von diesen Praktiken und dieser «anthropologischen Distanz» geprägt. Das hat in erster Linie mit dem sozialen Netzwerk selbst zu tun, in dem die Wissenschaftler des Tropeninstituts und speziell Rudolf Geigy tätig waren. Zwar waren die Abschlussmechanismen des Basler «Patriziats» nicht mehr so ausgeprägt wie das Philipp Sarasin noch für die Zeit bis zum Ersten Weltkrieg beschrieben hatte. Was aber noch immer spielte, war die Macht einer Tradition, welche beispielsweise die Bildungsinhalte oder die Mitgliedschaften in bürgerlichen Vereinigungen nicht zuletzt auch auf symbolischer Ebene regulierte.
Dieses soziale Netzwerk, dass die VertreterInnen des Basler Bürgertums aneinanderkoppelte, war auch eine Produktionsstätte tropenwissenschaftlicher Erkenntnis, eine «Maschinerie, durch die Erkenntnis konstruiert wird». Geigy knüpfte Freundschaften im Militär, er war Mitglied der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft, sass im Verwaltungsrat des Zoologischen Gartens und in anderen Fachgremien und er nahm das «Tropenwissen» anderer als Ausgangspunkt für seine Aktivitäten als Leiter des Tropeninstituts. Insbesondere seine Beziehung zu den Naturforschern Paul und Fritz Sarasin sollte sein Interesse für anthropologische Fragestellungen wecken.
In einem Brief an Fritz Sarasin schrieb er kurz vor Kriegsbeginn: «Mein lieber Freund, eine freudige Ueberraschung ganz eigener Art wird mir soeben zu Teil beim Empfang einer gediegenen Gabe, die Du mir zukommen liessest. Ich bin leider durch eine Bronchitis ans Zimmer gefesselt, sonst hätte ich mich unverzüglich aufgemacht, um Dir mündlich meinen allerherzlichsten Dank auszusprechen für das prächtige Werk über Deine und Deines Vetters Reisen und Forschungen in Ceylon während über vier Jahrzehnten, welche nun der Mitwelt in übersichtlicher und abgerundeter Form dargeboten werden. Mit diesen kurzen Zeilen und leeren Worten vermag ich natürlich nicht, Dir zu sagen, wie sehr mich Dein wertvolles Geschenk freut und interessiert, besonders da es noch Deine persönliche Widmung trägt; aber Du weisst ja seit Langem, wie sehr ich mich stets interessiert habe für Deine Forschungen und die Ergebnisse Eurer Reisen in den fernen Ländern, wie überhaupt die Ethnographie es mir angetan hat, und mich z. Zt. auch zum meiner Weltreise veranlasste. Wie habe ich mich damals gefreut, in Colombo Deine Spuren zu treffen, von den dortigen Schweizern und Deutschen über Deinen Aufenthalt dort zu hören und überall einem lebhaften Interesse zu begegnen für Eure grundlegenden Arbeiten über jene herrliche, auch mir unvergessliche Insel und ihren Bewohnern alter und neuer Zeit.»
Genau diese Praktiken und Elemente sind es, welche das Wissen eines noch völlig unbekannten Gegenstandes generierten: «ich habe deine Forschungsberichte gelesen,» «ich bin deinen Spuren gefolgt,» «ich habe mir von Schweizern und Deutschen die Details Deines Aufenthaltes darlegen lassen", «auch ich habe die Bewohner alter und neuer Zeit gesehen» etc. etc.
Geigys Begeisterung für die «Ethnographie» lässt sich auch an seinem im Jahr 1960 gefällten Entscheid ablesen, als Nachfolger des Entomologen Eduard Handschin der Kommission des Museums für Völkerkunde beizutreten. Geigy hatte dem Museum nicht nur immer wieder mit Griff in die eigene Tasche zu ansonsten unerschwinglichen ethnographischen Sammlungen verholfen. Er versuchte auch, die geographische Fokussierung des Museums auf den südostasiatisch-ozeanischen Raum aufzulockern und auf den afrikanischen Kontinent auszudehnen, wobei seine Schüler in die dortige Sammlungstätigkeit eingebunden werden sollten. In einem Protokoll der Museumskommission ist dazu über Geigys Doktorand André Aeschlimann zu lesen:
«In einem Brief von Dr Aeschlimann werden uns gute alte Stücke von der Elfenbeinküste angetragen, die ein Neger bringen wolle. Bemerkenswert ist vor allem eine geschnitzte Trommel. Die Preise sind allerdings hoch, zudem ist in einer früheren Sitzung beschlossen worden, dass Afrika aus Raum- und Geldgründen nicht besonders ausgebaut werden könne. Prof. Geigy findet die «salomonische» Lösung: er wird diese Trommel dem Museum schenken; der Neger wird uns kleinere Objekte zu unserer freien, unverbindlichen Auswahl senden, vor allem Textilien, Spielzeuge, Amulette und Talismane, die von uns aus allen Ländern der Welt gesammelt werden. Die Kommission ist mit diesem Vorschlag gerne einverstanden und dankt dem Donator bestens.»
Die Mitarbeiter des Museums waren sich bewusst, wie sehr das Tropeninstitut und seine Aktivitäten im «Centre Suisse de Recherches Scientifiques» (CSRS) an der Côte d’Ivoire und dem «Swiss Tropical Institute Field Laboratory» (STIFL) in Tansania auch dem Museum zum Vorteil gereichten. Ethnographisches und zoologisches Material wanderte aus diesen Erdteilen nach Basel, wurde klassifiziert, beschrieben und in eigene Systematiken übertragen, nicht zuletzt aus dem Bedürfnis heraus, den Prozess des «Afrique qui disparait» aufzuhalten, und die Gegenstände, die wie Relikte aus einer längst vergangen Zeit anmuteten, dem Publikum in Basel vor Augen zu führen.