Die Mitarbeiter der Physikalischen Anstalt konnten im September 1945 die erste amerikanische Fachzeitschrift lesen und sich so über die Forschungstätigkeit in anderen Teilen der Welt informieren. Der Kontakt mit ausländischen Institutionen wurde bedeutend einfacher, Austausche von Wissenschaftlern zwischen der Universität Basel und Forschungseinrichtungen innerhalb Europas und den USA wurden initiiert und erfreuten sich in den kommenden Jahrzehnten grosser Beliebtheit.
Angewandte Physik
Die Analyse der kernphysikalischen Messdaten erforderte dringend neue
elektronische Hilfsmittel. Aus diesem Grund wurde Ernst Baldinger von
der ETH Zürich 1945 nach Basel berufen. Die unter seiner Leitung in
der Abteilung für Angewandte Physik entwickelten und gebauten
Transistorschaltungen zählten bald zu den besten in Europa. Ab 1955
wurden in der Angewandten Physik keine Vakuumröhren mehr verwendet! Auf
Initiative Baldingers wurde zudem die «Koordinationsstelle zur
Förderung der modernen Elektronik an Schweizerischen Hochschulen»
geschaffen. In den 1960er Jahren galt Ernst Baldinger international als
Pionier der Entwicklung und Herstellung von
Halbleiter-Zähldioden für die Teilchenphysik. Neben der Physik an
Teilchenbeschleunigern wurde unter Paul Huber zudem eine Arbeitsgruppe
für Kernresonanzspektroskopie (Nuclear Magnetic Resonance NMR)
aufgebaut, die sich mit der Abklärung von molekularen Prozessen in
Lösungen befasste. Forschung und Ausbildung dieser Abteilung, die über
30 Jahren lang von Peter Diehl geleitet wurde, erwiesen sich speziell
für Chemie und physikalische Chemie als ausserordentlich fruchtbar.
Vom Atomium nach Basel. Ein Reaktor für die Kernphysik
In den 1950er Jahren stieg auch in der Schweiz das Interesse an einer
zivilen Nutzung der Atomenergie. Dem entsprach die zunehmende
Bedeutung des Atomkerns als Forschungsgegenstand an der Universität
Basel. In seiner Rektoratsrede referierte der damalige Institutsleiter
Huber 1958 über die Geschichte der Kernenergie und ihre Bedeutung für
den Menschen. Für Huber war die Kernenergie eine der «tiefgreifendsten
Entdeckungen der Menschheit». Um eine Ausbildung der Physikstudenten
auf diesem Gebiet zu ermöglichen, erwarb Huber 1959 einen
aussergewöhnlichen Praktikumsversuch: einen Kernreaktor vom Typ AGN
211 von der amerikanischen Firma Aerojet General Nucleonics. Dieser
stand zuvor als Ausstellungsstück der Weltausstellung 1959 unter dem
Atomium in Brüssel, dem heutigen Wahrzeichen der Stadt. Der Reaktor
wurden nach Basel transportiert und dort in den ehemaligen Kohlenkeller
der Physikalischen Anstalt eingebaut. Um die in den Kernreaktionen
entstehenden freien Neutronen und Gammastrahlen abzuschirmen, wurden
die Uranbrennstäbe des Reaktors in einem 3.5 Meter tiefen Wasserbecken
versenkt und zusätzlich mit Beton- und Metallplatten umgeben. Aufgrund
der niedrigen, auf 2 Kilowatt gedrosselte Maximalleistung und der
geringen Strahlendosis eignete sich der Reaktor sehr gut als
Versuchsreaktor zu Ausbildungszwecken.
Seit 1961 haben Studenten in Basel die seltene Möglichkeit, in ihren Studienjahren Erfahrung an diesem Versuchsreaktor zu sammeln. Noch heute nutzen Wissenschaftler verschiedener Fachgebiete die Anlage im Keller der Physikalischen Anstalt: das Basler Kantonslabor bestimmt mit Hilfe der im Reaktor erzeugten freien Neutronen den Schadstoffgehalt von Lebensmitteln aus Übersee, und Archäologen nutzen die Neutronen zur Elementanalyse von alten Tonscherben. Seit 1997 werden die zukünftigen Operateure von schweizerischen Kernkraftwerken am Basler Reaktor ausgebildet. Bis zu seinem Rücktritt war Eugen Baumgartner für den Reaktor zuständig, seit 1993 ist Jürg Jourdan mit der Wartung der Anlage und der Leitung des Praktikums betraut.
Steigende Studierendenzahlen. Räumliche und inhaltliche Erweiterungen
1960 verzeichnet die Physikalische Anstalt zum ersten Mal über
zweihundert Studenten in der Experimentalphysik-Vorlesung. Um den
immer weiter steigenden Studentenzahlen gerecht zu werden, stellte sie
1961 einen Antrag auf Erweiterung der Anstalt. 1966 begannen die
Baumassnahmen, drei Jahre später erfolgte die Einweihung des
Neubaus. Die Physikalische Anstalt verfügte nun über einen
Hörsaaltrakt, dessen grösster Saal Platz für 400 Studenten bot, über
neue Praktikumsräume und erstmals über eine eigene Mensa. 1963 wurde
das Studium grundlegend umstrukturiert und das Diplom als Abschluss
eingeführt. Bisher schloss das Physikstudium nach sieben bis acht
Jahren mit dem Doktorat ab. Nun gab man Studenten nach vier Jahren die
Möglichkeit einer Abschlussprüfung, nach der sie selbst entscheiden
konnten, ob sie ein Doktorat beginnen wollten.
Gleichzeitig mit dieser Umstrukturierung wurde das Vorlesungsangebot immer vielfältiger: zu den etablierten Vorlesungen in Experimental- und Theoretischer Physik traten nun spezialisierte Veranstaltungen, die auch die Bandbreite der physikalischen Forschung in Basel widerspiegelten. Unter Anderem wurden Vorlesungen zu Problemen der Kernphysik, Teilchenbeschleunigern, Optik und Neutronenspektroskopie angeboten. Bereits Huber hatte nach seinem Amtsantritt als Institutsleiter eine Anfängervorlesung in Physik eingeführt, die auch von den Studenten der anderen Naturwissenschaften und den angehenden Medizinern besucht wurde. Später übernahm der Kernphysiker Hans-Rudolf Striebel diese Vorlesung, die wegen ihrer Anschaulichkeit bei den Studenten sehr beliebt war. Ebenso war Striebel für die jährliche Weihnachtsvorlesung bekannt, die unter seiner Leitung stattfand. Striebels politische Karriere führte bis in den Regierungsrat des Kantons Basel-Stadt, dessen Mitglied er von 1984 bis 1995 war.
Auf der Jagd nach den kleinsten Teilchen der Materie. Kern- und Teilchenphysik
Die neue Computertechnologie, die sich zur Auswertung
wissenschaftlicher Daten eignete, setzte sich auch in
Basel durch. Im Jahre 1967 wurden die ersten grossen Rechenanlagen von den
Basler Physikern genutzt. Insbesondere der UNIVAC 1108, der von Sandoz
AG Basel betrieben wurde, leistete wichtige Dienste bei der Auswertung
von Messdaten und Simulationen. 1968 wurde der erste eigene
Kleincomputer angeschafft, mit dem Messungen von Kernreaktionen
aufgenommen und ausgewertet wurden.
Das Interesse der Kern- und Teilchenphysiker galt in der zweiten
Hälfte des 20. Jahrhunderts den kleinsten Bestandteilen der
Materie. Um zu diesen vorzustossen, wurde der Bau grosser
Experimentieranlagen notwendig, die nur in Zusammenarbeit vieler
Länder und Institutionen verwirklicht und unterhalten werden
konnten. Neben dem CERN in Genf entstanden weltweit Beschleuniger zur
Erforschung der Elementarteilchen und der fundamentalen Kräfte.
Ende der 1970er Jahre begann die Physikalische Anstalt der Universität Basel, sich an verschiedenen solcher Anlagen zu beteiligen und einen Teil ihrer Forschung an den dortigen Geräten durchzuführen. Der 1974 berufene Gerhard Backenstoss war beteiligt am LEAR (Low Energy Antiproton Ring)-Speicherring des CERN, in dem 1996 die ersten Antiwasserstoffatome erzeugt werden konnten. Unter Führung des 1985 berufenen Ludwig Tauscher wurde die Universität Basel 1994 Mitglied der Kollaboration des CMS Detektors, einem der Detektoren des Large Hadron Colliders (LHC) am CERN. In der Forschungsgruppe von Baumgartner wurden 1983 Gian-Reto Plattner und Ingo Sick auf Extraordinariate berufen. Plattners politische Karriere führte bis in die höchsten Ämter der Eidgenossenschaft: Er vertrat von 1991 bis 2003 den Kanton Basel-Stadt im Ständerat und war 2002/03 Ständeratspräsident. 1993 trat Sick die Nachfolge des zwei Jahre zuvor zurückgetretenen Baumgartner an. Er arbeitete an Beschleunigeranlagen in Europa und den USA arbeitete er an Experimenten, die massgeblich zur Erforschung der Struktur des Atomkerns und der im Kern herrschenden Kräften beigetragen haben. 1987 erhielt er für seine Verdienste in der Kernphysik den Tom W. Bonner Preis der Amerikanischen Physikalischen Gesellschaft.
Zum Extraordinarius in Theoretischer Physik wurde 1988 Dirk Trautmann berufen. Er beschäftigt sich mit der theoretischen Beschreibung von Prozessen, die an grossen Beschleunigern untersucht werden und in der Atom- und Kernphysik eine wichtige Rolle spielen. 1999 erhielt Bernd Krusche eine Professur in Experimenteller Kern- und Teilchenphysik und vertritt seitdem die Universität Basel bei verschiedenen internationalen Experimenten, deren Ziel das Verständnis der fundamentalen Kräfte zwischen Nukleonen ist.