Ausdifferenzierung der Lehrstühle 1818 bis 1937: Horizontaler Ausbau und Ausbau von untenDer Gang der Gründung
geisteswissenschaftlicher Lehrstühle verlief nicht nur langsamer als in
den Naturwissenschaften, sondern hinkte in Basel auch der Entwicklung
an den deutschen Universitäten hinterher. Den Ausschlag gaben die
in Basel recht speziellen universitären Aussenbeziehungen sowie
handfeste Interessen des Staats. Dennoch sollte der Prozess der Disziplinenbildung nicht als ‹von oben› dirigiert vorgestellt
werden.
Die institutionelle Etablierung einer neuen
Fachrichtung wurde seit je durch die Gründung eines Lehrstuhls
besiegelt. Am Gang der Lehrstuhlgründungen lässt sich der Prozess der
disziplinären Ausdifferenzierung in aller Deutlichkeit ablesen. Für die
Geistes- und Naturwissenschaften ist diese Entwicklung nicht nur
besonders gut erforscht, sondern auch besonders interessant, weil der
Fächerkatalog hier speziell vielfältig ist. Durch den Blick auf
die Lehrstuhlgründungen wird zudem das Bild der numerischen Entwicklung
des Lehrkörpers weiter verfeinert: Zur fakultätsspezifischen Verteilung
der Personalressourcen, wie wir sie aus den Personalverzeichnissen
gewonnen haben, kommen fachspezifische
Gewichtungen hinzu.
Umgekehrt wird natürlich nicht mit jedem neu geschaffenen Lehrstuhl eine neue Disziplin institutionalisiert. Es ist zwischen horizontalem und vertikalem Ausbau zu unterscheiden: Der Ausbau der Lehrstühle in der Horizontalen verbreitert das disziplinäre Spektrum um neue Fächer, der Ausbau in der Vertikalen stockt etablierte Fächer um zusätzliche Ordinariate auf.
Komplettierung der «Grundausstattung»
Die Lehrstuhlentwicklung an der Universität Basel stimmt mit diesen
Trends insgesamt überein, weicht davon aber in einer Hinsicht
auffallend ab. In den Naturwissenschaften hielten die
Lehrstuhlgründungen Schritt mit der Entwicklung an den deutschen
Universitäten. Spätestens seit der Reform von 1818 waren Mathematik,
Naturgeschichte (inklusive Botanik) sowie Chemie und Physik (seit 1852
aufgespalten) mit Ordinariaten dotiert. Mit der Teilreform 1855 kam die
von Ludwig Rütimeyer prominent vertretene Zoologie hinzu, mit dem neuen
Universitätsgesetz von 1866 zudem ein Lehrstuhl für Mineralogie und
Geologie. Das einzige Fach, das mit Verspätung auf die deutsche
Entwicklung erst 1911 zu einem eigenen Lehrstuhl kam, war die
Geographie. Damit war die naturwissenschaftliche Grundausstattung
komplett.
Hier zeigt sich, dass die Unterscheidung von vertikalem und
horizontalem Ausbau nicht trennscharf zu machen ist: Die Aufstockung
der Geisteswissenschaften hatte fachintern auch eine horizontale
Dimension, sei es das alte Teilbereiche zu Subdisziplinen mit eigenem
Lehrstuhl aufgewertet oder junge Fachzweige institutionell verankert
wurden. Diese fachinterne Grenzziehung blieb in den
Geisteswissenschaften disponibler als in den Naturwissenschaften, wo
das Gesetz von 1937 die subdisziplinäre Aufteilung der dreifach
besetzten Chemie vorschrieb (anorganische, organische und physikalische
Chemie).
Wandel der Aussenbeziehungen Die disziplinären Lücken, die auf Gesetzesebene noch 1937 zwischen den geisteswissenschaftlichen Lehrstühlen klafften, gingen direkt auf diese Verflechtung zurück. 1874 legte ein Legat der Familie Vischer-Heussler die Basis für eine Stiftung, die unter dem Patronat der Freiwilligen Akademischen Gesellschaft fortan Professuren in den Fächern Vergleichende Sprachwissenschaft (inklusive Sanskrit) und Archäologie finanzierte. Im 20. Jahrhundert wurden diese privaten Mittel erst allmählich durch staatliche ersetzt, zunächst in der Form planmässiger Lehraufträge, in den 1950er Jahren dann durch die Einrichtung persönlicher Ordinariate. Aus dieser Verflechtung auch den Vorsprung der Naturwissenschaften in der Vervollständigung der Grundausstattung zu erklären, wäre aber falsch. Die altbaslerische Bildungsfraktion trug auch die Naturforschung. Im Bildungsbegriff des Neuhumanismus gehörten die Naturwissenschaften genauso zur einheitsstiftenden Philosophischen Fakultät wie die Geisteswissenschaften. Durch den Paradigmenwechsel von der Naturbetrachtung als reinem Bildungszweck, wofür in Basel Peter Merians Naturgeschichte steht, zur mehr oder weniger industrienahen Forschung, für die der Farbstoffchemiker Rudolf Nietzkis stilprägend wurde, rissen zwar viele Fäden zum Bildungsbürgertum. Ein Teil der informellen Trägerschaft brach weg. Dies bedeutete aber nicht, dass der Staat in den Naturwissenschaften früher und stärker hätte einspringen müssen. Gleichzeitig wurden neue Fäden im symbiotischen Dreieck zwischen Universität, Staat und chemischer bzw. pharmazeutischer Industrie gesponnen. Die Finanzkraft des Kantons – Bundesgelder begannen erst in den 1950er Jahren zu fliessen – reichte zu keinem Zeitpunkt aus um einen Forschungsbetrieb zu unterhalten, der diesen hochgradig wissensintensiven Industriezweig mit international kompetitivem Wissen hätte versorgen können. Mit dem Aufstieg der Chemie von einer Zuliefererin der Textilindustrie zu einer Leitindustrie der zweiten Industrialisierungsphase erschlossen sich daher auch den Naturwissenschaften seit dem Ende des 19. Jahrhunderts neue, private, sehr liquide Geldquellen. Nicht ungünstigere ‹Aussenbeziehungen› – die es so höchstens vorübergehend gab – stehen hinter dem Vorsprung der Naturwissenschaften in der Gründung öffentlich finanzierter Lehrstühle. Vielmehr spiegelt sich darin einerseits der allgemeine Bedeutungsgewinn der Naturwissenschaften im Wissenskorpus der Moderne sowie andererseits die Prioritätensetzung eines Staates, der sich zusehends in die Innovationszwänge der modernen Industriegesellschaft eingespannt sah.
Ausbau von unten Auch wenn der Staat seine Interessen gegenüber der Universität immer wieder artikulierte – den Prozess des horizontalen Ausbaus darf man sich nicht zu dirigistisch vorstellen. Neue Fächer oder Subdisziplinen etablierten sich nicht einfach ‹von oben› durch einen planmässigen Fakultäts- bzw. Regierungsentscheid. Dieser setzte meist nur den Schlusspunkt unter einen langwierigen, schwer überschaubaren Prozess, der sich ‹von unten›, aus der Assistentenebene heraus entwickelt hatte und der in seinem genauen Verlauf kontingent war. Konkret kann man sich diesen Prozess vielleicht folgendermassen vorstellen: Zunächst nahm ein Assistent eine neue wissenschaftliche Strömung wahr, machte sich auf Forschungsaufenthalten an den führenden Universitäten damit vertraut, bekam nach der Rückkehr einen Lehrauftrag für das neue Gebiet, habilitierte sich und gelangte als Extraordinarius in die Warteschleife vor dem Ordinariat. Dann wurde plötzlich ein Lehrstuhl frei, sei es durch Emeritierung, Abwanderung oder Tod. Die Strategie des Nachfolgers richtete sich nicht nur darauf, die personelle, finanzielle und räumliche Ausstattung des Lehrstuhls zu beerben, sondern er verlangte mit Argumenten der internationalen Konkurrenz deren Ausweitung, was auch die Entlastung von Subdisziplinen beinhaltete. Und so wurde – falls die Sparsamkeit der öffentlichen Hand nicht eisern war – aus einem Lehrstuhl zwei. Und so wurde – falls auch zusätzlich noch private Sponsoren einsprangen – ein neues Institut gegründet. |
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